1. Kapitel

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1. Kapitel

Es war um die Mittagszeit in Khartum, wenige Meter vom Suq, dem Hauptmarkt der Stadt, und drei Querstraßen vom Nil entfernt. In der Ferne rief der Muezzin zum Gebet. Auf einigen der flachen Dächer breiteten die Gläubigen ihre Gebetsteppiche aus.
Ich saß auf dem Balkon unseres Gasthofes und las in der Zeitung einen Artikel über Muhammad Ahmad, der auf der Aba-Insel im Weißen Nil eine Moschee gebaut und dort eine große Anhängerschaft um sich geschart hatte.
Von unten drang eine kräftige Stimme zu mir herauf. Ich stand auf und trat an die Balustrade. Neben dem Eingang des Gasthofes unter mir bildete sich ein Kreis von Menschen. Es dauerte nicht lange und die Zuhörer hockten sich auf dem Boden nieder. Andere blieben stehen. Sie hingen fasziniert an den Worten und Gesten eines Erzählers. Ich verstand nichts und doch konnte ich die Feierlichkeit mancher Worte spüren.
Ich hörte die Stimme meines Weggefährten und Freundes Naaman, der sich im Zimmer neben dem Balkon mit einem Mann unterhielt.
„... und darum sage ich dir: Den möchte ich sehen, der Hand an mich zu legen wagt – das habe ich dir zu sagen, und das schreibe dir hinter die Ohren.“
„Allahu Akbar! ─ Gott ist groß!“, hörte ich die Stimme des Fremden.
Ich trat vom Balkon in das Zimmer, wo ein ägyptischer Soldat Naaman gegenüberstand.
„Was ist hier los, Naaman?“, fragte ich meinen Freund und wandte mich an den Soldaten. „As salâmu aleikum! ─ Friede sei mit dir!“
„Aleikum as salâm! ─ Auch mit dir sei der Friede!“, erwiderte dieser und verbeugte sich.
„Was führt dich zu uns?“, fragte ich.
„Und wer bist du?“, wollte der Ägypter wissen.
„Ich bin –“
Naaman unterbrach mich mit einem zwinkernden Auge und deutete auf mich.
„Das tut nichts zur Sache. Dieser Herr ist ein Händler aus Algerien. Wir sind auf dem Weg nach Alexandria und werden noch heute unsere Reise fortsetzen. Also verschwinde jetzt!“
„Kaikun Bey möchte dich aber sprechen, Naaman. Er hat uns befohlen, dich zu ihm zu führen.“
„Allahu Akbar! ─ Gott ist groß!“, rief Naaman entrüstet. „Wer bist du denn, Mahmud? Du glaubst vielleicht, dass du hier den Emir spielen kannst! Bei der Hölle, dir werde ich das Spiel verderben! Da war noch keiner, der mir in die Quere gekommen ist und nachher auch nur noch einen einzigen Tag erlebt hätte.“
Im Treppenhaus ließen sich schwere Tritte und Männerstimmen vernehmen. Die Türe öffnete sich und mehrere bewaffnete Männer schoben sich in das Zimmer.


Eine Viertelstunde später saßen wir in einem Boot, vier Männer ruderten und der mit Mahmud Angeredete hielt uns mit seiner Pistole in Schach.
Am westlichen linken Ufer des Weißen Nil glitt unser Boot an Sesam- und Baumwollfeldern vorüber. Das Ufer wurde felsiger. Die Ruderer fanden den Eingang in einer hohen Mauer.
Wir legten an. Ein Kanal erstreckte sich von der Anlegestelle bis zum Haus. Mahmud gebot uns auszusteigen.
Danach führte er uns zum Tor und klopfte. Nach einigen Minuten öffnete es sich einen Spalt und ein Pförtner streckte seinen Kopf heraus. Als er Mahmud erkannte, verneigte er sich tief, riss die Türe auf und trat unterwürfig zur Seite.
Wir traten in einen schmalen und kahlen Gang, der nicht überdacht war. Die Zierpflanzen, die den Raum früher ge-schmückt hatten, waren längst verwelkt. Schwalben hatten in den Dachsparren und Mauerritzen des Gebäudes ihre Nester gebaut.
Der Ägypter Mahmud führte uns durch einen dunklen Torgang in einen kleinen Hof, in dessen Mitte sich ein Wasserbecken befand, das von dem Kanal gespeist wurde, den ich vorher bemerkt hatte.
Wir überquerten den Hof und traten in ein geräumiges Zimmer, durch dessen vergitterte Fenster Licht fiel. Arabesken verzierten die Wände und Säulen. In einer Ecke hing ein Käfig. Darin befand sich ein Papagei, der bei unserem Eintreten „Allahu Akbar!“ krächzte.
Kaikun Bey saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem langen Diwan. Er trug auffällige Narben auf seiner Stirn: eine Reihe hervorstehender Punkte. Er erhob sich bei unserem Eintreten, blieb aber vor seinem Sitz stehen.
„As salâmu aleikum! ─ Friede sei mit euch!“, grüßte Kaikun Bey mit übertriebener Höflichkeit.
„Aleikum as salâm! ─ Auch mit dir sei der Friede!“, erwiderte ich mit einem leichten Kopfnicken.
Mein Freund schwieg.
„Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht Naaman ist“, sagte Kaikun Bey. „Was führt euch nach Khartum?“
„Was fällt dir ein, Kaikun, mich durch die ägyptischen Soldaten in dein Haus zu bringen“, schimpfte Naaman. „Hast du keine eigenen Leute mehr?“
„Wir arbeiten mit den Ägyptern zusammen“, entgegnete der Schilluk, „und da du nicht selbst gekommen bist, habe ich die Soldaten von Raschid Bey Ayman geschickt.“
„Wir haben ihn übrigens getroffen, Kaikun Bey.“
„Ihr seid dem Mudir von Faschoda begegnet?“
„Ja.“
Kaikun schlug verwundert die Hände zusammen.
„Wo habt ihr mit ihm gesprochen?“
„In den Nuba-Bergen.“
Kaikuns Blick bohrte sich forschend in den meinen und wanderte danach hinüber zu Naaman.
„Raschid Bey Ayman muss gekommen sein, als ich bereits abgereist war.“
„Ja“, spottete Naaman, „du hattest es ziemlich eilig, dich mit den Sklavinnen aus dem Staub zu machen.“
„Dass wir keine männlichen Sklaven erbeuten konnten, daran ist der Mudir von Faschoda schuld!“ Kaikun Bey stand hoch aufgerichtet vor uns. „Er hat uns den Sklavenhandel verdorben.“
„Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt, Kaikun“, ereiferte sich Naaman. „Ihr Schilluk ─.“ Mein Weggefährte überlegte einen Augenblick und fragte dann. „Was willst du von mir?“
Draußen auf dem kleinen Hof, durch den wir gekommen waren, hörte ich Schritte. Kurz darauf drängten sich einige bis an die Zähne bewaffnete Männer ins Zimmer. Dem Pförtner war der Streit zwischen Kaikun und Naaman wohl nicht entgangen, und er hatte vorsichtshalber die Leibgarde herbeigeholt.
Kaikun gab seinen Leibwächtern mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich noch etwas gedulden sollten. Er verschränkte die Arme und heftete seinen Blick auf mich.
„Wer bist du eigentlich?“
„Mein Name ist Mourad Bencheikh“, log ich. „Der Handel mit Baumwolle und Hirse führte mich in die Dschazira-Ebene und in die Nuba-Berge, von wo Naaman und ich den Nil heruntergekommen sind.“
„Dann hast du also nichts mit dem Sklavenhandel zu tun?“
„Bis jetzt noch nicht.“
Ich stand aufrecht in dem Zimmer, mein Herz pochte wie ein Schmiedehammer, denn ich begriff erst jetzt, dass mein Weggefährte Naaman in den Sklavenhandel verstrickt war.
Eine lange Pause folgte.
„Naaman und ich werden uns jetzt zur Beratung zurückziehen“, beendete Kaikun Bey das Schweigen. „Was wir zu besprechen haben, ist vielleicht noch nicht für deine Ohren bestimmt. Du kannst es dir unterdessen auf dem Diwan hier bequem machen.“
Naaman, Kaikun Bey und seine Männer zogen sich in den kleinen Hof zurück, und das leise Tuscheln und Zischeln hörte sich an wie das Rieseln eines Baches.
Ich stand allein in dem Zimmer. Neben dem Diwan öffnete sich eine Tür. Aus dem angrenzenden Zimmer trat eine Frau. Der Vogel pickte an seinem Gitter und krächzte „Allahu Akbar!“
Ein süßer, sinnbetörender Duft strömte mir entgegen, als sie ihren Gesichtsschleier zurückschlug. Ich blickte in ein sehr schönes Antlitz. Ihre Haut war bronzefarben mit einem Silberhauch, ihre tiefschwarzen Augen lagen unter langen Wimpern halb verborgen, wie Geheimnisse, welche nicht ergründet werden sollten. Sie trug ein langes Gewand, welches den Hals eng umschloss und an der Taille von einem Netz aus Perlen zusammen-gehalten wurde. Diese Frau mochte zwanzig Jahre zählen.
„Mein Name ist Kleopatra“, flüsterte die Schöne und trat nahe an mich heran.
Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor eine so warme und feste Stimme gehört zu haben. Ich hatte noch nie die Liebe gefunden. Ich scherzte, spottete und lachte über die Schwächlinge, die ihre goldene Freiheit für einige Tage der Lust verkauften, um in Ketten zu erwachen. Nie sollte mein Herz anders klopfen als für die Freiheit, und jetzt? ─ Ein einziger kurzer Moment ergriff mein starres Herz, um mein Sehnen, mein Verlangen, mein Begehren zu wecken.
„Ich habe euch belauscht!“, flüsterte Kleopatra. „Du gehörst weder zu den Schilluk noch zu den Ägyptern.“
„Ja, ich gehöre nicht zu ihnen.“
„Ich vertraue dir, Mourad Bencheikh.“
„Mein Name ist nicht Mourad Bencheikh, ich heiße Malek bin Abd el-Kader.“
„Bist du Christ?“
„Ja, wie kann ich dir helfen?“
„Ich bin auch Christin. Kaikun Bey hat mich und meine Schwestern von den Nuba-Bergen hierher verschleppt und hält mich als seine Sklavin.“
„Wo sind deine Schwestern?“, fragte ich die Schöne im Flüsterton.
„Kaikun hat sie an den Sklavenhändler Osman Digna verkauft. Mich will er für sich behalten. Ja, du kannst mir helfen!“
„Wie kann ich das tun?“
„Es gibt nur einen Weg, wie du mich hier herausholen kannst.“
„Und wie?“
„Durch den Wasserkanal. Ich habe es auch schon versucht, aber ein Holzgitter versperrt den Weg. Du kannst die Holzstäbe mit einer Eisenstange brechen.“
Die Beratung der Männer dauerte noch an, als einer von ihnen eintrat. Mir stockte der Atem. Aber Kleopatra war so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Der Leibwächter postierte sich an der Tür. Er hatte wohl den Befehl erhalten, mich zu beobachten.